Kranzegger Geiger

Es sind wohl schon hundert Jahre her, da sind zwei Brüder aus Kranzegg, die als Maurer in die Fremde gezogen waren, in der Schweiz in Arbeit gestanden und saßen einmal an einem schönen Sommerabende mit anderen Kameraden im Freien vor dem Hause. Wie sie so miteinander diskutierten, hörten sie auf einmal das Muetes kommen, und zwar vernamen sie so liebliche Musik, wie sie es schöner alle ihrer Lebtag nie gehört hatten. Am meisten hingerissen von derselben ward aber der eine von den Kranzegger Maurern, der nämlich selbst ein guter Musikant war und auf der Geige gar trefflich und schön aufspielen konnte. Da vermochte er sich nicht mehr zu halten und lief schnell ins Haus, damit er die wundervollen Weisen, die er hörte, auf seinem Instrumente nachspielen könne. Er geigte aber nicht lange, so erfasste ihn das Muetes, hob ihn in die Lüfte und nahm ihn fort. Nach kurzem kam einer von den Luftgeistern zu ihm her mit einem großen Buch und sagte, nun müsse er sich eine Ader öffnen und mit seinem Blute seinen Namen in das Buch einschreiben. Wenn er das nicht täte, so käme er nie mehr zu seinem Bruder, auch nie mehr zu den Seinen nach Kranzegg, sondern müsse ewig mit ihnen herumziehen. Da war nun der arme Geiger in arger Not und Bedrängnis, denn was es auf sich habe, den Namen mit eigenem Blute einzuschreiben, war ihm wohl klar. Er konnte es aber auch fast nicht über sich bringen, die Seinen nie mehr zu sehen. So wußte er lange nicht Rat, wozu sich entscheiden. Endlich gab er scheinbar nach, öffnete eine Ader, wie verlangd ward, tauchte die Feder im Blute eine und fing an zu schreiben, worüber sich der Luftgeist sehr befriedigt zeigte. Wie dieser aber, nachdem der Schreibende beendet hatte, in dem Buche nachsah, stand da wohl ein Name drin, aber nicht der des Geigers, sondern der höhste, den es gibt, nämlich der Name "Jesus von Nathareth". Kaum hatten die Luftteufel diesen heiligsten Namen zu Gesicht bekommen, so stoben sie alle wild auseinander, denn diesen Namen konnten sie nicht vertragen. Der Geiger aber fiel herab auf einen alten Birnbaum, mehr als hundert Stunden weit drin in Frankreich. Hier musste er warten, bis der Morgen kam und er herabsteigen konnte. Dann hatte er aber noch gar viele Mühen und Strapazen, bis er wieder zurückfand und zu seinem Bruder kam.

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