Sorgegeist

Der Sorgegeist

 

Wer, von Hindelang im Allgäu kommend, das "Jöchle" übersteigt und seine Schritte von "Unterjoch" gegen "Jungholz" zu wendet, der kommt geradenwegs durch eine Sennalpe, welche Sorge genannt wird und jetzt der Gemeinde Wertach gehört. Einst war es nicht so; sie war Eigentum der Gemeinde Jungholz, wurde aber von den Wertachern angesprochen und hierüber mit Federn und Knütteln ein erbitterter Kampf geführt, ohne daß die Streitenden zum Ziele gelangen konnten. Da überließ man endlich den Entscheid dem Pfarrdechanten zu Wertach, Dr. Bach mit Namen, welcher seiner Gemeinde das alleinige Alpenrecht zum ungeteilten Eigentum zusprach und dieses auch zur Geltung zu bringen wußte.

 

Da aber der geistliche Herr Doktor dabei gewissenlos gehandelt hatte, wie manchmal nichtgeistliche Herren Doktoren auch zu tun pflegen, so mußte er alsbald nach seinem Tode bald da, bald dort in der Alpenregion als Spukgeist herumwandeln und muß so lange leiden, bis die Wertacher die Alpe ohne Entschädigung aus freiem Antriebe den Jungholzern zurückgeben. Die Geschichte wird in folgender Weise erzählt: Als sich beide streitenden Parteien dem Ausspruche des Dr. Bach unterwarfen und die Gemeindemänner auf der Alpe Sorge versammelt waren, stieg auch der Pfarrdechant von Wertach den Pfad empor, stellte sich unter die höchste Tanne zu den Männern und sprach mit lauter Stimme: "Männer von Jungholz und Wertach! Ihr habt mich mit eurem Vertrauen beehrt und die Schlichtung eures Prozesses nach Recht und Gewissen mir übertragen." Und nun schrie der Doktor so laut, daß es weithin hallte: "Nach Recht und Gewissen stehe ich auf Wertacher Grund und Boden, so wahr ein Schöpfer über mir ist!" Da erschraken die Jungholzer über die Maßen ob dem Ausspruch, denn sie hatten ein gutes Recht, anzunehmen, daß im schlimmsten Falle auf Zurücklassung nur eines Teiles des Alpengrundes angetragen werde und der Wahrspruch demnach also ausfallen würde. Die Wertacher zogen aber jubelnd mit ihrem Pfarrdechanten heim und freuten sich des wertvollen Besitzes.

 

Voll Arglist hatte Dr. Bach in der Nacht vor dem Entscheidspruch auf jenem hohen Baum, unter welchen er sich stellte, einen Kübel, das heißt ein hölzernes Gefäß, unter den Zweigen aufhängen lassen, mit welchem man aus dem Bache Wasser zu schöpfen pflegt und das man den "Schöpfer" heißt; auch hatte er zu Wertach etwas Erde und Sand in seine Schuhe gestreut und ist also mit Wertacher Boden auf die Jungholzer Alpe gegangen. Daher konnte er wohl sagen, so wahr ein Schöpfer über ihm sei, stehe er auf Wertacher Boden; allein der Herr des Himmels und der Erde versteht bei Eiden keine schelmische Doppelzüngelei, und hat getan, wie zu sehen ist.

Diese Sage wiederholt sich in Tirol auch anderwärts ziemlich häufig und findet sich da und dort in Prosa wie in poetischer Form des breiteren erzählt.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 154


Es scheint sich um eine sehr alte Grundstreitigkeit zu handeln, da die Verhandlung nicht in einem Gerichtssaal, sondern unter einem hohen Baum stattfindet. Bäume galten als Vermittler zwischen Himmel und Erde (die Zweige im Himmel, die Wurzeln in der Erde) und wurden als Ort angesehen, an dem die Welt wieder "gerichtet" werden konnte, also die "rechte" = göttliche Ordnung wieder hergestellt wird.