Heide Göttner-Abendroth, Matriarchatsforscherin:

Heide Göttner-Abendroth
Heide Göttner-Abendroth

Über die kulturgeschichtliche Deutung der Göttin Holla und der Göttin Tanna aus dem Buch

"Frau Holle – Das Feenvolk der Dolomiten" Die großen Göttinnenmythen Mitteleuropas und der Alpen

Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2005 (Seite 134 f. und Seite 305 ff.)

Hollunder - Kultbaum der Holle
Hollunder - Kultbaum der Holle

Frau Holle

Von Frau Holle ist allgemein nur eine einzige Erzählung bekannt, die obendrein noch die unzutreffende Bezeichnung "Märchen" trägt. Es ist die von den Brüdern Grimm verfasste, verbürgerlichte und moralisierende Geschichte von der Goldmarie und der Pechmarie. Hierbei wird verdunkelt, dass dahinter eine sehr alte Mythe und ein ebenso alter Initiationsritus stehen. Unbekannt ist auch, dass Frau Holles Gestalt einen ebenso reichen Mythenschatz besitzt wie jede Große Göttin des Vorderen Orients und Mittelmeerraumes. Durch immer weitergehende Sammeltätigkeit wurde dieser wieder ans Licht gebracht, doch bisher nur in unzusammenhängender und unverstandener Form veröffentlicht. In der Gesamtheit dieser Frau Holle-Mythen steckt jedoch die Gestalt der Frau Holle als Großer Göttin in allen drei Aspekten; der Jungfrau, der Liebesgöttin, der weisen Alten.

Wie bei allen diesen großen Muttergöttinnen reicht ihre umfassende Gestalt bis in die matriachale Epoche Europas zurück, die Jungsteinzeit, worauf einzelne ihrer Mythen mit sehr archaischen Zügen hinweisen. Im Verlauf der kulturgeschichtlichen Veränderungsprozesse wurde ihre Gestalt erst keltisiert, dann germanisiert und noch später in feudale Zusammenhänge gestellt. Doch mit erstaunlicher Lebenskraft überdauerte diese Göttin mitten im Patriarchat und schützte ihr Volk auch in diesen unwirtlichen Zeiten, wie einzelne ihrer Mythen zeigen.

Bis ins 18. und 19. Jahrhundert, als die Gebrüder Grimm das so genannte "Märchen" von der Frau Holle schufen, war ihre Gestalt lebendig, und zwar keineswegs als Märchenfigur, sondern als mündlich weitergegebener, religiöser Glauben von einfachen Leuten, insbesondere Frauen. Für diese war sie noch immer die schützende Göttin und helfende Mutter. Erst durch die beiden Germanisten Grimm wurde sie literarisiert und zur Märchenfigur, zur unwirklichen Fiktion, herabgewürdigt. Doch bei der Revision ihres Mythenschatzes unter kulturgeschichtlicher Perspektive wird die enorme historische Tiefe der Gestalt der Frau Holle, die mindestens 5.000 Jahre lang verehrt wurde, wieder erkennbar. Daher kann sie mit Isis von Ägypten, Rhea von Kreta und den anderen Großen Göttinnen verglichen werden.

 

Tanna

Die Mythe von Tanna (Woff, S. 117) ist bemerkenswert, denn hinter Tanna steht die uralte, allgemein europäische Göttin Dana. Sie ist als "Ana" oder "Anna" weit über Europa hinaus auch im Vorderen Orient als Urgöttin und Große Mutter bekannt. Im Kreta der Jungsteinzeit wurde sie als Danae verehrt und war die Verkörperung des Landes selbst.

Auch in Irland war Dana die Göttin des Landes, und ihr Volk nannte sich "Tuatha Dé Danann". Zwei heilige Hügel in Irland weisen noch auf sie hin, welche die "Brüste der Danu" genannt wurden. Nicht anders verhält es sich mit dem Namen "Däne-mark" was "Land der Dana" bedeutet. Zugleich spiegeln diese Namen geografisch die Wanderungsbewegung der matriarchalen Völker aus dem Mittelmeerraum entlang den atlantischen Küsten Westeuropas bis hinauf zu den Inseln und Ländern Nordwesteuropas. Eine andere Wanderungsbewegung dieser Kultur führt vom Schwarzen Meer die großen Ströme aufwärts, was deren Name "Donau" und Don" belegen. ...

In den Dolomiten nahm Tanna die Gestalt einer Berggöttin an, denn das ist hier das Erscheinungsbild der Erde. Als solche hatte sie jedoch nicht nur einen gütigen, sondern auch einen wilden Charakter, der die Gefahren spiegelt, denen die Menschen in dieser Alpenregion schon immer ausgesetzt waren; Lawinen, Steinschlag, Hochwasser und Muren haben im Land der senkrechten Bergstöcke und Felsentürme eine besonders gefährliche Vehemenz. Die Sage von Tanna als Königin der Crodères, mit denen die Berggruppe der Marmaròles gemeint ist, gibt dies sehr realistisch wieder. Denn Tannas Name taucht in Landschafts- und Sippennamen in ganz Südtirol einschließlich der Ötzaler Alpen und sogar noch bei Innsbruck auf.

... Denn die mythische Stadt Tanneneh (oder Dananä, Onanä) wird beim Alpenhauptkamm der Ötztaler Alpen lokalisiert, ein Grenzgebiet mit kulturhistorischer Ausrichtung nach Südtirol. Hier erstreckte sich die von Süden kommende, altmittelmeerische Kultur über den Alpenhauptkamm hinweg auf seine nördliche Seite.

Vergleichbare Sagen von einer im Schnee und Eis versunkenen Stadt oder Almlandschaft gibt es im gesamten Alpenraum. Sie sprechen von einer plötzlichen, drastischen Klimaverschlechterung, wie wir sie auch in der Tanna-Mythe finden. Hinter diesen Sagen stehen geo-historische Ereignisse großen Ausmaßes wie die Naturkatastrophe eines plötzlichen Kälteeinbruchs in Europa um 4.000 – 3.000 v.u.Z., die im Alpenraum am dramatischten spürbar gewesen ist. Vorausgegangen war eine Warmzeit, die ein noch milderes Klima hatte als unsere Gegenwart. Bis auf die höchsten Pässe hinauf, wo noch heute die Gletscher liegen, waren in den Alpen Grasland und Wald zu finden. Diese Warmzeit gestattete den Menschen der Jungsteinzeit ein bequemes Überschreiten höchster Pässe, das Anlegen eines Wegenetzes für den Handel, verbunden mit auf den Pässen gelegenen Handelsstädtchen. Auch die Weidewirtschaft wurde viel höher hinauf betrieben, als es heute möglich ist. In diese neolithische Kulturepoche fiel dann der verheerende Einbruch einer neuen Zwischen –Eiszeit, welche die blühende Höhenkultur in den Alpen vernichtete, uns Heutigen aber auch Funde wie die berühmte Gletschermumie "Ötzi" bescherte.

Die Menschen der matriarchalen Kultur müssen diesen Klimasturz als Strafe der Landesgöttin empfunden haben. Darauf weisen die mit den Untergangssagen der Region verbundenen moralisierenden Motive hin: Eine alte Mutter wurde zu wenig geachtet, kostbare Lebensmittel wurden verschwendet, ein Fremder oder eine Familie erhielt keine Gastfreundschaft. Die Achtung vor der ältesten Frau, die Heilighaltung der Lebensmittel, die bedingungslose Gastfreundschaft sind insgesamt matriarachale Werte. Später wurden dieser Sagengruppe patriachale Moralvorstellungen untergeschoben wie ein lasterhaftes Leben, ein versäumter Kirchgang, Habgier, Geiz oder Hochmut.