Drache im Urisee

In der Nähe von Reutte liegen zwei Seen; der eine, der Urisee, liegt ober Mühl auf einem Vorsprung des Dürrenberges, der andere jenseits des Tales auf einem Vorsprung der Gehrenspitze und heißt Frauensee.

Im ersteren hauste ein Drache, der nachts zuweilen feurig hinüberfliegt zum jenseitigen Frauensee. Der Drache soll, wie einige behaupten, sieben Köpfe haben und sich öfters am sandigen Seeufer sonnen; andere wollen ihm auf einer Art geschundenem "Roß" gesehen haben.

An der Stelle des Urisees stand vor Zeiten eine Schmiede, die gutes Erträgnis einbrachte. Leider aber war die Frau des Schmiedes falsch wie eine Schlange und so gottvergessen, dass sie, als ihr Söhnchen einmal in den Straßenkot gefallen war, statt eines Tuches oder Schwammes frischgebackene Brotkrume nahm und es mit diesen abtrocknete und reinigte. Dadurch erzürnte die Schmiedsfrau den Himmel so sehr, dass die Schmiede versank und der See entstand, in dem nun die frevelhafte Frau als Drache Strafe und Pein erleidet.

Alpenburg, Zingerle, Reiser

Urisee
Urisee

Die Sage verwendet verschiedene Symbole (Drache, Schmiedin, versunkene Schmiede), die auf ein sehr hohes Alter hindeuten: Der Drache ist der ein Symbol der Fruchtbarkeit. Die handelnde Person ist nicht der Schmied, (die Schmiede ist der Nachhall eines Platzes mit vorgeschichtlichem Erzabbau) sondern die Frau des Schmieds. Gebäude, Schlösser, Almen und Dörfer, die in einem See, in einem Gletscher oder in einem Berg versinken, findet man im ganzen Alpenraum. Sie deuten auf eine untergegangene Kultur hin. Zudem wird der Name "Frauen-"  (hier Frauensee) oder "Marien-" meistens dort gebraucht, wo wir Kultplätze aus einer noch mutterrechtlich geprägten Zeit vorfinden.

In dem Bild des Brotes, das zur Säuberung des Sohnes verwendet wird, anstatt dass es gegessen wird spiegelt sich sowohl Überfluss und Reichtum als auch der Verfall von Werten wieder. Die Frau des Schmieds hat offenbar so viel Brot, dass sie es zum Putzen verwendet. Und sie mißbraucht das Brot deswegen, weil ihr dessen Wert nicht mehr bewußt ist.

Möglicherweise hat der Vermerk, der Drache reite auf einem geschundenen Roß nichts mit einem Pferd zu tun, sondern am Urisee befand sich eventuell ein heiliger Ros-Bezirk, vergleichbar dem Rosengarten des Zwergenkönigs Laurin. Am Lechfall bei Füssen heißt der heilige Bezirk (jetzt Magnus-Tritt) Lusalten oder Rosalten. Auch bei Bergen, die Roßberg heißen, sollte man sich eine Deutung in Richtung "Heiliger Bezirk" offen lassen. Oftmals erhält sich zwar der Name, aber die tatsächliche Bedeutung war in Vergessenheit geraten und verloren gegangen.